Neue Zürcher Zeitung

Donnerstag, den 16.08.2001

Schwarze Leichtathleten und das Tabu ihrer Überlegenheit

Schaffen genetische Erklärungsmodelle
Verständnis oder Intoleranz?

by Martin Helg

Am Freitag treffen sich in Zürich die weltbesten - ausser einer Handvoll Schweizern wirklich nur die allerbesten - Leichtathleten zur WM- Revanche. Die Mehrheit von ihnen ist schwarzer Hautfarbe. Dies trifft nicht auf die Teilnehmerfelder in den Wurfwettbewerben zu, umso stärker aber auf diejenigen der Laufstrecken im Allgemeinen und auf den 100-m-Sprint im Besonderen. Diese Bestandesaufnahme deckt sich mit den Verhältnissen in den Olympiafinals seit 1984. Die 200 besten 100-m-Zeiten sind allesamt von Schwarzen erzielt worden, und noch nie ist ein Nichtschwarzer unter 10 Sekunden gelaufen. Die 100 m sind diesbezüglich ein Réduit: Obschon nach wie vor alle Laufweltrekorde von 60 m bis zur Marathonstrecke von Athleten afrikanischer Abstammung gehalten werden, ist beispielsweise der 200-m-Weltmeister ein Grieche und der 800-m-Weltmeister ein Schweizer. Doch der Mythos von der «schwarzen» Überlegenheit ist dadurch nicht angetastet worden - der Kurzsprint bleibt die Bastion der Schwarzen, zusammen mit der faszinierenden semantischen Implikation: «schnellster Mensch der Welt».

Seismograph des Hausfriedens

Das Phänomen ruft nicht nur nach Erklärungen, sondern weckt sofort auch Angst vor rassistischen Entgleisungen. Ein mulmiges Gefühl hat die Forschung in den vergangenen drei Jahrzehnten veranlasst, sich einen Maulkorb anzulegen. Zuvor hatten Generationen von Aufklärern, Vermittlern und Provokateuren über das Zusammenspiel von sozialen oder ökonomischen, psychologischen oder genetischen Ursachen gestritten - mit oder ohne Rücksichtnahme auf den Emanzipationsprozess einer Minderheit, die ihre politische und gesellschaftliche Gleichstellung in den USA über Jahrzehnte erstreiten musste und noch immer nicht vollständig durchgesetzt sieht. Die sportwissenschaftliche Hautfarbendiskussion wurde zum Seismographen des nationalen Hausfriedens. Unkenntnis hatte den Vorteil der Unverfänglichkeit: Das National Human Genome Research Institute in Washington gestand erst vor kurzem zähneknirschend ein, um eine Art Bioethik-Debatte betreffend die verschiedenen Gruppen der Weltbevölkerung nicht herumzukommen; wobei der Institutsdirektor Francis Collins den Anspruch formulierte, dass «die ganze Menschheit von den Ergebnissen profitieren müsse». Fürwahr ein hohes Ideal, wenn auch nach ethischen Massstäben eine Selbstverständlichkeit. Doch woher rührt die Angst, etwas «Falsches» ans Licht zu fördern?

Aus historischer Sicht gleicht das Thema einem Minenfeld. Belastet ist es seit Kolonialzeiten durch eurozentristische und faschistische Rassenlehren, die im Extremfall bis zum Genozid führten. Im sportlichen Zusammenhang grassierte die abstruse Idee, physische Überlegenheit gehe bei jungen schwarzen Athleten mit einem beschränkten Intellekt einher; eine empirisch angeblich belegte These, die indes die soziostrukturellen Voraussetzungen von schulischer Bildung ausser acht liess. Der Parallelschluss von sportlichen auf die geistige oder gar von geistigen auf sexuelle Fähigkeiten (Stichwort Penisgrösse) stiftete Verwirrung und Ressentiments, deren Restposten schnell reaktiviert sind. Der Nobelpreisträger James Watson, der 1950 die Struktur der DNS entdeckt und vierzig Jahre später das Human Genome Project initiiert hatte, bekam dies kürzlich zu spüren, als er einen direkten Zusammenhang zwischen Hautfarbe und Libido postulierte. Der Biologe Dean Hamer tat sich ebenfalls keinen Gefallen, als er 1993 versuchte, Homosexualität genetisch zu erklären. Und als der Publizist Jon Entine ein Buch mit dem Titel «Taboo - why black Athletes dominate Sports» veröffentlichte, schlug auch ihm eine Welle der Empörung entgegen. Das angesehene englische Blatt «Guardian» bezichtigte Entine des «Rassendeterminismus» und beklagte einen Backlash in die Vorzeit der politischen Unmoral.

Schwere Knochen, flinke Beine

Dabei tönen Entines Ausführungen in europäischen Ohren harmlos. Er formuliert ein paar schlichte Fragen nach dem Zusammenhang zwischen sportlicher Leistung und genetischer Zugehörigkeit und orientiert sich dabei an den ziemlich homogenen Erkenntnissen der Forschung seit den zwanziger Jahren. Schwarze mit westafrikanischen Wurzeln haben demnach eine grössere Knochenmasse, was auf eine grössere Muskelmasse hindeutet. Diese weist mehr «schnelle» Muskelfasern und mehr anaerobe Enzyme auf, was wiederum die Explosivität erhöht. Ost- und Nordafrikaner dagegen verfügen über ein höheres oxidatives Potenzial der Muskeln, was sich positiv auf die Ausdauerfähigkeit auswirkt. Bei schwarzen Männern sind der Testosteron- und der Wachstumshormonspiegel leicht höher als bei weissen, und im Ganzen haben Schwarze proportional schmalere Hüften, breitere Schultern und längere Beine - lauter Faktoren, die für die Erklärung von sportlichen Qualitäten zumindest nicht ausser Betracht fallen. Entine ist weit davon entfernt, aus einem einzigen Punkt zu argumentieren. Der anstössige Körperdeterminismus bleibt erst übrig, nachdem er die sozialen und gesellschaftlichen Erklärungsmuster behutsam weggeschält hat. Natürlich begünstigen lange Schulwege und eine lange Läufertradition schnelle Zeiten über 10 000 m, aber genügen sie zu deren Erklärung?

Opportun ist die Feststellung, Schwarze dominierten im Sport, weil sie anderswo zu wenig Möglichkeiten hätten. Oder provokativer formuliert: Weisse dürfen den Erfolg schwarzer Athleten anerkennen, solange sie deswegen Schuldgefühle haben. Gleichzeitig besteht ein scheinbar unverbrüchlicher Konsens, wonach das Projekt, dass die Menschen einander gleich behandeln sollen, bedroht ist, wenn unter der Haut nicht tatsächlich alle gleich sind. Der Publizist Malcolm Gladwell erinnert sich demgegenüber an eine Art Mitleid, das er als junger schwarzer 1500- m-Läufer einem weissen Kollegen gegenüber empfand. Er habe dessen Weiss-Sein als «eine degenerative Krankheit» betrachtet, schreibt er in einem Essay. Davon hob sich das Lebensgefühl von Gladwells schwarzen Trainingskollegen mit pulsierender Leichtigkeit ab: «Bei jedem wichtigen Wettkampf richteten sie sich unter der Tribüne ein, liessen aus ihren Ghettoblastern volle Kanne Reggae blubbern und machten alle Läufer auf der Bahn zur Schnecke.» Zu einer ähnlichen Dissuasionsstrategie bekannte sich der Schweizer 100- m-Rekordhalter Dave Dollé gegenüber dem Nachrichtenmagazin «Facts»: «Wenn ich, beispielsweise im kanariengelben Anzug, auf dem Wettkampfplatz auftauchte, sagten die sich: Da können wir gleich einpacken.»

Das Stadion - Ghetto oder Fluchtpunkt?

Entine verzichtet in seinem Buch so konsequent auf Scheuklappen, dass er auch darwinistische Erklärungsversuche gelten lässt. Im Sinn des «survival of the fittest» liegt es nur auf der Hand, dass die Nachkommen von Afroamerikanern, die sowohl die Verschleppung in menschenunwürdige Verhältnisse als auch die Strapazen der Sklavenarbeit überlebten, auf dem Sportplatz eine gute Figur machen. Doch auch dieser Ansatz gefällt dem Autor nicht restlos, so dass er weiter fragt, ob das genetische Erklärungsmodell am Ende nichts weiter sei als «ein weisser Voodoo- Zauber zum Zweck, die Schwarzen in die modernen Plantagen zu bannen: das Leichtathletik- und das Basketballstadion». Dieses Argument bringt einen gesellschaftlichen Faktor ins Spiel zurück - um ihm gleichzeitig zu widersprechen. Die beiden Sportarten sind wohl schwarze Domänen aus Tradition und aus Gründen der Segregation. Doch sie sind kein ökonomisches Gegenmodell, weit davon entfernt, die Benachteiligung der Schwarzen im zivilen Berufsleben zu kompensieren. Ein fixes Einkommen garantiert die Leichtathletik nur einigen wenigen; sie taugt insofern höchstens als Identitätsangebot mit einer vagen Option auf Ruhm und Sponsorengelder.

Der Mythos, wonach sich schwarze Sportler mit gutem Grund «doppelt anstrengten», lässt sich kaum besser versachlichen als die rassistische Gegenversion: jene von ihrer natürlichen Leichtigkeit in Körperdingen. Auch stammen die wenigsten Leichtathletikstars aus der Unterschicht. Die dreifache Olympiasiegerin Marion Jones wuchs ohne Vater, aber in gesicherten finanziellen Verhältnissen auf. Der kanadische Sprinter Donovan Bailey fuhr schon vor seinem Olympiasieg in Atlanta einen Porsche, den er sich als Broker verdient hatte, und Carl Lewis residierte schon vor seinem vierfachen Olympiasieg in Houston in einer pseudo-viktorianischen Kitschvilla mit sechs Telefonen und einer Schlafzimmerbeleuchtung, die sich durch Pfiffe regulieren liess. Anderseits ist es eine Tatsache, dass auch in traditionell «schwarzen» Sportarten vorwiegend Weisse an den Hebeln der Macht sitzen - der Senegalese Lamine Diack, neu gewählter Präsident des internationalen Leichtathletikverbandes, ist hierin eine Ausnahme. Eine marginale Rolle spielen schwarze Athleten zudem in den traditionellen Sportarten der Oberschicht: Tennis und Cricket sind «weisse» Domänen, im Golf erwies sich der kometenhafte Aufstieg von Eldrick «Tiger» Woods als Einzelphänomen ohne revolutionäre Folgewirkung.

Die amerikanische Öffentlichkeit klammert sich nicht ohne Grund an sozioökonomische Erklärungsmuster. Die Wissenschaft hat sich in ihren Augen zu wenig darum bemüht, das Bild von den menschenverachtenden Faktenhubern zu korrigieren. Zudem ist die Toleranzbereitschaft immer auch eine Funktion der politischen Wirklichkeit. Erkenntnisse aus dem Elfenbeinturm der Genetiker und biologischen Anthropologen bleiben explosiv, solange zum Beispiel die Behörden im US-Gliedstaat New Jersey ihre State Troopers dazu anhalten, sich bei Kontrollen auf Schwarze und Latinos zu konzentrieren (nur zwei von zehn durchsuchten Wagen wurden von Weissen gesteuert). Die gleiche Weisung hatte die Drogenbehörde DEA an ihre Polizeibeamten ausgegeben. Der Skandal um das sogenannte «racial profiling» hat die Minderheiten in Rage gebracht und einmal mehr die Frage aufgeworfen, ob das «genetic mapping» der Forscher nicht einfach dasselbe in Blau sei.

Ein Vorschlag zur Güte

Der Furcht vor ideologisch pervertierbaren Forschungsergebnissen wirkt der Autor Malcolm Gladwell mit einem arithmetischen Modell entgegen, das wie zum Ausgleich geschaffen scheint. Seine Ausführungen zum Prinzip der Variabilität setzen das Gegensatzpaar «Schwarz - Nicht- Schwarz» in Bezug zu jenem von Mann und Frau. Die von Gladwell zitierten Untersuchungen weisen bei Mädchen und Knaben vergleichbare Durchschnittsleistungen im Fach Mathematik auf. Wer wollte dem einen Geschlecht eine höhere Intelligenz zuschreiben? Mädchen sind jedoch überwiegend im Mittelfeld vertreten, während sowohl die besten als auch die schlechtesten Resultate von Knaben stammen, die hier wie in vergleichbaren Untersuchungsgebieten eine grössere «Variabilität» zeigen. Ähnliches lässt sich offenbar von Sportlern mit afrikanischen Wurzeln, ja von Afrikanern überhaupt sagen. «Schwarze sind wie Jungen. Weisse sind wie Mädchen», behauptet Gladwell. Ein Grund, sich zu streiten?

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